Ein Arztbesuch / Von Helmut Müller Ei Gude, wie?

Helmut Müller.

Was glauben Sie, welcher Tag ist der Beste für einen Arztbesuch? Ich glaube montags und freitags ist ganz schlecht. Meine Favoriten sind der Dienstag und der Mittwoch. Obwohl ich meine Termine bei den Doktoren langfristig plane, gelingt mir dies nicht immer. Und welche Uhrzeit ist die Beste? Für mich eindeutig der frühe Morgen. Am besten der erste Termin. Da heißt aber auch, als Erster vor Ort zu sein. Was glauben Sie, wie viele Minuten vor Öffnung der Praxis sollte man vor Ort sein? Ich sag es Ihnen, Minimum 30 Minuten. Ich habe einen Termin um 8.30 Uhr, das ist die Öffnungszeit der Praxis, ich bin also der Erste. Das ist gut. Schlecht ist der Tag. Es ist ein Freitag. Das Wochenende steht vor der Tür. Ich hätte mir einen anderen gewünscht. Wie das aber so ist. Die Praxen sind auch montags und freitags geöffnet. Und manchmal erwischt es auch einen „Fuchs“ wie mich.

Natürlich stehe ich 35 Minuten vor Öffnung vor der verschlossen Praxistür. Ich bin aber nicht der Erste, schade. Es ist ein Paketbote. Plötzlich öffnet sich die Tür, es sind 30 Minuten vor Start, eine mich unfreundlich anschauende medizinisch technische Assistentin, wir nennen Sie einfach MTA, grüßt mich nicht, obwohl ich sie in gewohnter Höfflichkeit freundlich anschaue, aber: nonverbal, „Du noch nicht!“. Freundlich grüßt Sie den Boten, unterschreibt, schnappt das Paket und verschwindet wieder hinter der Tür, die sie rasch zudrückt. Die hat sicher Angst, dass ich nachschlüpfe. Schön, jetzt bin ich der Erste. Noch knapp 30 Minuten. Während ich so nachdenke, wie ich nachher das Verhalten der MTA dem Arzt erzähle (ich werde es tun, das braucht mein Ego), erscheint ein älteres Ehepaar. Weit ab von der Eingangstür positionieren sie sich mit einem freundlichen Nicken. Ich nicke freundlich zurück.

15 Minuten vor Start geht es los. Zuerst erscheint eine Frau um die 40, missgelaunt bezieht sie mir gegenüber Stellung. Kein Grußwort. Nur ein herzerbarmendes Stöhnen. Ich beziehe jetzt körperlich Stellung vor der Tür, aber rückwärts gewandt, sodass ich alles hinter mir sehe. Eine Mutter mit Tochter, etwa 5 Jahre alt, betritt das Geschehen. Sie grüßt freundlich, ich bin der Einzige, der zurückgrüßt. Wir verstehen uns. Wir werden alle von der Tochter gemustert. Ich bin der Einzige, der ihre Blicke erwidert. Wir sind Freunde. 15 Minuten sind 900 Sekunden. Das Mädchen fängt an, mit dem Körper zu schaukeln. Mit jeder Bewegung des Kindes setzt die Stöhnende einen Seufzer ab. Ich meine, Kind mach schneller, Kind mach schneller, das Haus fängt an sich im Takt des Kindes mit zu bewegen, endlich kommt Bewegung in die Geschichte. Alle, außer dem Kind, der Mutter und ich, sind genervt. Schöne Wartezeit, meine ich. Ich liebe Kinder. Stöhnen wird kürzer und schneller. Ich denke, hoffentlich vergisst die Stöhnende nicht zu atmen. Sie vergisst es, sie kommt ins Straucheln und hustet in den Raum. Ich drehe mich um. Die Türe summt, ich schaue kurz und bestimmend in die Runde, alle akzeptieren, ich bin der Erste. Ich öffne die Tür und betrete die Praxis, alle folgen mir. Ei Gude, wie!