„Vision Zero“ sucht Verstärkung

Oberkommissarin Sabine Bezar, Teamleiterin der Jugendverkehrsschule der Polizei Südosthessen, im Einsatz an der Bruchköbeler Frida-Kahlo-Schule. Foto: Detlef Sundermann

Die Verkehrswacht Hanau-Gelnhausen benötigt dringend Ehrenamtliche für die Verkehrserziehung.

Main-Kinzig-Kreis – „Zurzeit hängt’s von mir ab, ob es mit der Deutschen Verkehrswacht Hanau-Gelnhausen weitergeht“, sagt Egbert Leistner mit einem gequälten Lächeln, das sein Bedauern überspielt. Nicht, dass Leistner mit einem Daumenrauf oder -senken über den Fortbestand des Vereins entscheiden könnte. Aber er sei das letzte aktive Mitglied, wie er sagt.

„Ich bin auch schon 70 Jahre alt“, fügt er an, um die Situation zu verdeutlichen. Obendrein sei er mit seinem Alter der Jüngste, bemerkt der Geschäftsführer. Die Verkehrswacht Hanau-Gelnhausen benötigt dringend neue Mitstreiter, fordert Leistner. „Die Aufgaben werden immer mehr, der Verkehr wächst von Tag zu Tag“, sagt er bei einem Gespräch auf dem Pausenhof einer Bruchköbeler Schule, wo die Verkehrswacht mit der Jugendverkehrsschule der Polizei Mädchen und Jungen auf dem Fahrrad für den Straßenverkehr fit machen.

Die Schülerin stoppt mit ihrem Velo exakt an der dicken weißen Haltelinie, der Blick geht nach links und rechts. Nachdem der Querverkehr vorbei ist, steigt sie wieder in die Pedale, um zügig anzufahren. Auf dem Hof der Frida-Karlo-Schule ist ein komplettes Straßenbild mit Überwegen, Kreuzungen und mehr mit dauerhafter weißer Farbe aufgemalt. Die Verkehrsschilder hat Oberkommissarin Sabine Bezar, Teamleiterin der Jugendverkehrsschule der Polizei Südosthessen, in einem Transporter mitgebracht, ebenso einige Fahrräder, welche die Verkehrswacht gestiftet hat. Bezar erklärt den Kindern, worauf bei der Vorfahrt zu achten ist, welche Bedeutung die Schilder haben.

„Die frühe Verkehrssicherheit von Kindern ist uns ein großes Anliegen“, sagt Leistner. Eigentlich fängt Sicherheit für die Verkehrswacht mit dem Schulwegtraining an. „Viel zu viele Kinder werden mit dem Elterntaxi zum Unterricht gefahren“, sagt Leistner. An Versuchen der Verkehrswacht dagegenzusteuern, fehle es nicht. Nunmehr läuft etwa in Fulda ein Projekt mit dem Namen „Schule zu Fuß“.

Die Arbeit der Deutschen Verkehrswacht betrifft alle Generationen, sagt Leistner. Ziel ist die „Vision Zero“, ein Straßenverkehr ohne Unfälle mit Schwerverletzten und Toten. Eine sich ob der neuen Mobilitätstrends augenscheinlich entfernende Vision. Im Fokus stünden daher die Jugendlichen und deren vermehrter Gebrauch von E-Scootern sowie Senioren, die sich mit wenig Fahrpraxis auf ein Pedelec setzen. Bei beiden Gruppen gehen die Unfallzahlen hoch, das betrifft auch die Zahl der Todesfälle, sagt Leistner. Die Verkehrswacht Hanau-Gelnhausen habe jedoch nicht das Personal, um entsprechende Trainings zu machen. „Jüngst habe ich vom Kreis die Anfrage erhalten, mal einen Fahrradcheck an Schulen zu machen. Ich würde ja gerne, aber allein geht’s nicht.“

Der Verein ist 1951 gegründet worden. Heute gebe es noch 40 Mitglieder, davon sind 25 juristische Personen, also etwa Firmen. Ob der demographischen Entwicklung seien vor fünf Jahren die Wachten Hanau und Gelnhausen zusammengelegt worden. Die Überalterung sei jedoch kein lokales Problem. „Hessenweit ist die Verkehrswacht zu einem Club der alten Männer geworden“, sagt Leistner. „Frauen? Haben wir auch, die machen etwa ein Prozent aus“, sagt er schelmisch.

Dass es an Nachwuchs fehlt, der sich aktiv in der Verkehrserziehung bei Kleinkindern bis Senioren einbringt, liegt aus Sicht von Leistner auch an der zurückgegangenen Selbstdarstellung der Deutschen Verkehrswacht. Zu Hoch-Zeiten vor Jahrzehnten war die Wacht, die sich gerne Deutschlands älteste und größte Bürgerinitiative nennt, in der Öffentlichkeit präsenter, allein mit den lehrreichen Verkehrskurzfilmen der Reihe „Der 7. Sinn“, die in der ARD liefen.

Das habe sich auch finanziell ausgewirkt. Die Spenden seien weniger geworden, ebenfalls die Zuweisungen von Gerichten, wenn Angeklagte zu einer Geldstrafe verurteilt worden seien. „Aber Geld ist derzeit kein wirkliches Problem“, sagt Leistner. Die materielle Unterstützung etwa der Jugendverkehrsschule, Banner an Straßen zu Schuljahr-Beginn oder die Ausstattung der Schulanfänger mit den knallgelben Kappen sei weiterhin möglich.

Um bei der Verkehrswacht mitzumachen, muss man beruflich nicht aus dem thematischen Umfeld kommen, etwa von der Polizei, sagt Leistner. Das nötige Wissen und wie Inhalte vermittelt werden, wird in Seminaren beigebracht, heißt es. Man sollte Spaß haben im Umgang mit Menschen allen Alters und über ein gewisses Vermittlungsgeschick verfügen, denn die Themenbandbreite der Wacht ist weit. Dazu zählt auch das Autofahren im Alter, wenn es im Gespräch mit Senioren aufkommt. „Wenn das Auto alle zwei Jahre zum TÜV muss, warum soll das nicht auch für den Fahrer gelten“, sagt Leistner mit Blick auf das konsequente Ziel der Wacht, Vision Zero.

Die Deutsche Verkehrswacht wurde am 3. November 1924 in Berlin als Bürgerinitiative gegründet. Der spätere Verein, heute mit 60 0000 Mitgliedern, gilt als Vorreiter der Verkehrserziehung in Deutschland. Auf Betreiben der Wacht wurde 1972 die Verkehrserziehung als vollgültiger, allgemeiner Erziehungsbereich anerkannt.

Die Jugendverkehrsschule der Polizei kommt zur Verkehrserziehung in Kindertagesstätten und Grundschulen. Ein Schwerpunkt bildet das Fahrradtraining, das in der ersten und zweiten Übungseinheit auf dem Pausenhof erfolgt, der zumindest einen aufgemalten Verkehrsübungsplatz haben muss. Bei erreichter Tauglichkeit geht es in den Realverkehr, sagt Stefanie Szigat, Leiterin der Jugendverkehrsschule Südosthessen. Zum Training gehört auch eine Prüfung mit Fahrtest und Fragebogen.

Der Unterricht sei in der Regel für Schüler der 3. und 4. Klassen. Jugendliche mit Lernbeeinträchtigung können ab der 5. Klasse mit dem Fahrrad teilnehmen, gegebenenfalls aber auch bei einem Fußgängertraining, so Szigat. Letzteres kann gleichfalls für Kinder an Regelgrundschulen gelten. Immer mehr Mädchen und Jungen können nicht oder nur unsicher Rad fahren, heißt es. „Wir können den Kindern zuvor nicht auch noch das Fahrradfahren beibringen. Das ist Sache der Eltern“, sagt Szigat.

Weitere Informationen im Internet unter www.deutsche-verkehrs wacht.de.

Von Detlef Sundermann